Seneca: Epistulae Morales – Epistula 69 – Übersetzung

Lateinischer Text: Deutsche Übersetzung:
Seneca Lucilio Suo Salutem Seneca grüßt seinen Lucilius (Brief 69)
Mutare te loca et aliunde alio transilire nolo, primum, quia tam frequens migratio instabilis animi est: Coalescere otio non potest nisi desit circumspicere et errare. Folgst du meinem Rat, so meidest du den häufigen Ortswechsel und das Hinüberspringen von einer Stätte zur anderen, weil erstens verrät ein solcher Wandertrieb ein unstetes Gemüt: Es fehlt ihm die Ruhe zu rechter Sammlung und Festigung, wenn es unaufhörlich um sich schaut und in die Irre geht.
Ut animum possis continere, primum corporis tui fugam siste. Willst du die Seele in Schranken halten, so musst du zuerst dem flüchtigen Treiben des Körpers Einhalt tun.
Deinde plurimum remedia continuata proficiunt: Interrumpenda non est quies et vitae prioris oblivio; sine dediscere oculos tuos, sine aures assuescere sanioribus verbis. Sodann sind diejenigen Heilmittel die wirksamsten, die stetig angewendet werden: Die Ruhe darf nicht unterbrochen und die Erinnerung an das frühere Leben nicht immer wieder geweckt werden; lass deine Augen verlernen, lass deine Ohren dauernd vernünftigerer Rede zugänglich werden.
Quotiens processeris, in ipso transitu aliqua, quae renovent cupiditates tuas, tibi occurrent. Bei jedem Schritte vorwärts wird im Schreiten selbst dir mancherlei aufstoßen, was deine Begierden wieder wachrufen kann.
Quemadmodum ei, qui amorem exuere conatur, evitanda est omnis admonitio dilecti corporis, nihil enim facilius quam amor recrudescit, ita, qui deponere vult desideria rerum omnium, quarum cupiditate flagravit, et oculos et aures ab iis, quae reliquit, avertat. Wie derjenige, der sich einer Liebe entschlagen will, jede Erinnerung an die, geliebte Gestalt meiden muss, da nichts leichter wieder aufbricht als eine Liebeswunde, so muß der, der sich der Sehnsucht nach allem, worauf seine leidenschaftliche Begehrlichkeit gerichtet war, entledigen will, Auge und Ohr abwenden von dem, von dem er sich getrennt hat.
Cito rebellat affectus. Quocumque se verterit, pretium aliquod praesens occupationis suae aspiciet. Schnell erneuert die Leidenschaft ihr gefährliches Spiel. Wohin sie sich auch wendet, überall wird sie etwas bereit liegen sehen, das der Besitzergreifung wert ist.
Nullum sine auctoramento malum est: Avaritia pecuniam promittit, luxuria multas ac varias voluptates, ambitio purpuram et plausum et ex hoc potentiam et, quidquid potest, potentia. Wo fände sich ein Übel, das nicht seinen Reiz mit sich führte: Die Habsucht verspricht Geld, die Üppigkeit viele und mannigfache Ergötzlichkeiten, der Ehrgeiz Purpur und rauschenden Beifall und als Frucht desselben Macht nebst allem, was ihrem Gebote untersteht.
Mercede te vitia sollicitant: Hic tibi gratis vivendum est. Durch solchen Lohn reizen die Laster: Hier aber musst du ohne Entgelt leben.
Vix effici toto saeculo potest, ut vitia tam longa licentia tumida subigantur et iugum accipiant, nedum si tam breve tempus intervallis discindimus; unam quamlibet rem: Vix ad perfectum perducit assidua vigilia et intentio. Reicht doch kaum ein ganzes Menschenalter hin, um die durch so lange Ungebundenheit ungebührlich angeschwollenen Laster in die Schranken zurückzuweisen und unter das Joch zu beugen, was soll also werden, wenn wir die so kurze Zeit durch Unterbrechungen zerstückeln; nimm irgendeine beliebige Sache: Nur durch beständige Wachsamkeit und Anstrengung kann sie, und auch so kaum, zur Vollendung gebracht werden.
Si me quidem velis audire, hoc meditare et exerce, ut mortem et excipias et, si ita res suadebit, accersas: Interest nihil, illa ad nos veniat an ad illam nos. Wenn du mich hören willst, so sei darauf bedacht und bereit dazu, den Tod, sei es zu empfangen, sei es, wenn die Umstände es ratsam machen, ihn sogar herbeizurufen: Es macht keinen Unterschied, ob er zu uns komme oder wir zu ihm.
Illud imperitissimi cuiusque verbum falsum esse tibi ipse persuade: „Bella res est mori sua morte“. Von der Unrichtigkeit jenes jedem Alltagsmenschen geläufigen Wortes musst du dich selbst überzeugen: „Eine schöne Sache ist es, seines Todes zu sterben.“
Nemo moritur nisi sua morte. Illud praeterea tecum licet cogites: Nemo nisi suo die moritur. Es gibt niemanden, der nicht seines Todes stürbe. Überdies magst du nachdenken über das Wort: Es gibt niemanden, der nicht an seinem Tage stürbe.
Nihil perdis ex tuo tempore; nam quod relinquis alienum est. Vale. Du verlierst nichts von deiner Zeit; denn die, die du noch außerdem hast, gehört eben nicht dir. Lebe wohl.

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