Seneca: Epistulae Morales – Epistula 64 – Übersetzung

Lateinischer Text: Deutsche Übersetzung:
Seneca Lucilio Suo Salutem Seneca grüßt seinen Lucilius (Brief 64)
Fuisti here nobiscum. Potes queri, si here tantum; ideo adieci „nobiscum“; mecum enim semper es. Gestern warst du hier bei uns. Du könntest dich beklagen, würde ich sagen, du seiest gestern hier gewesen; deshalb fügte ich hinzu „bei uns“; denn bei mir bist du immer.
Intervenerant quidam amici, propter quos maior fumus fieret, non hic, qui erumpere ex lautorum culinis et terrere vigiles solet, sed hic modicus, qui hospites venisse significet. Ein paar Freunde waren gekommen, ihnen zu Ehren stieg stärkerer Rauch zum Himmel, freilich nicht ein Qualm, wie er aus den Küchen der vornehmen Leute aufsteigt und die Fenerwächter beunruhigt, sondern ein ganz bescheidener Rauch, der die Ankunft von Gästen verkündet.
Varius nobis fuit sermo, ut in convivio, nullam rem usque ad exitum adducens, sed aliunde alio transiliens. Das Gespräch ging hin und her, wie immer bei einer Einladung, wir sprachen kein Thema bis ans Ende durch, sondern sprangen von einem zum anderen.
Lectus est deinde liber Quinti Sextii patris, magni, si quid mihi credis, viri, et licet neget Stoici. Dann wurde eine Schrift des Q. Sextius, des Vaters, verlesen, eines, das kannst du mir glauben, bedeutenden Mannes und Stoikers, auch wenn er das abstreitet.
Quantus in illo, di boni, vigor est, quantum animi! Hoc non in omnibus philosophis invenies: Quorundam scripta clarum habentium nomen exanguia sunt. Himmel, was für ein Feuer, welcher Geist! Das wirst du nicht bei allen Philosophen finden: Mancher hat einen berühmten Namen, aber seine Schriften sind blutleer.
Instituunt, disputant, cavillantur, non faciunt animum, quia non habent: Cum legeris Sextium, dices, „vivit, viget, liber est, supra hominem est, dimittit me plenum ingentis fiduciae“. Gewiss, sie belehren, regen die Diskussion an, bringen neckische Dinge usw., aber den Geist erwecken sie nicht, weil sie keinen haben: Aber liest du den Sextius, so wirst du sagen: „Er hat Leben, Feuer, Freiheit, erhebt sich über den Durchschnitt der Menschen, und ich fühle mich erfrischt von mächtigem Selbstvertrauen“.
In qua positione mentis sim, cum hunc lego, fatebor tibi: Libet omnis casus provocare, libet exclamare, „quid cessas, fortuna? Congredere: Paratum vides“. In welcher Stimmung ich bin, wenn ich ihn lese, das will ich dir sagen: Alle Wechselfälle des Daseins möchte ich herausfordern, ich möchte rufen: „Schicksal, was zögerst du? Komm her: Du findest mich gerüstet“.
Illius animum induo, qui quaerit, ubi se experiatur, ubi virtutem suam ostendat, spumantemque dari pecora inter inertia votis optat aprum aut fulvum descendere monte leonem. Mich erfüllt der Mut des Mannes, der Gelegenheit sucht, seine Kraft zu erproben, seine Tapferkeit zu zeigen: „Wenn doch“, so fleht er, „mich unter den Feiglingen allen angriffe wütend ein Eber, herabstieg‘ vom Berge ein gelblicher Löwe“.
Hoc idem virtus tibi ipsa praestabit, ut illam admireris et tamen speres. Es ist also das gleiche wie bei der Tugend: Man bewundert sie und hofft doch.
Mihi certe multum auferre temporis solet contemplatio ipsa sapientiae: non aliter illam intueor obstupefactus, quam ipsum interim mundum, quem saepe tamquam spectator novus video. Mir wenigstens geht es so, dass schon die Meditation über die Weisheit mir viel Zeit nimmt: Staunend stehe ich ihr gegenüber, wie zuweilen der ganzen Welt, die ich oft wie ein ganz neuer Zuschauer betrachte.
Veneror itaque inventa sapientiae inventoresque; adire tamquam multorum hereditatem iuvat. Daher verehre ich die Ergebnisse der Weisheitslehre und ihre Schöpfer; mit innerer Freude befasse ich mich damit, wie mit dem Vermächtnis vieler Freunde.
Mihi ista adquisita, mihi laborata sunt. Sed agamus bonum patrem familiae, faciamus ampliora, quae accepimus; maior ista hereditas a me ad posteros transeat. Für mich ist das alles geschaffen, für mich erobert worden. Handeln wir aber wie ein guter Familienvater, vermehren wir das Ererbte; Vergrößert möge das Erbe von mir der Nachwelt zufallen.
Multum adhuc restat operis multumque restabit, nec ulli nato post mille saecula praecludetur occasio aliquid adhuc adiciendi. Noch immer bleibt viel zu tun und wird es bleiben, und keinem nach tausend Menschenaltern geborenen Nachfahren wird die Gelegenheit fehlen, immer noch etwas hinzuzutun.
Libet aliquid habere, quod vincam, cuius patientia exercear. Etwas möchte ich haben, das ich zu Boden zwingen, dessen Unterwerfung mich stählen könnte.
Nam hoc quoque egregium Sextius habet: Quod et ostendet tibi beatae vitae magnitudinem et desperationem eius non faciet: Scies esse illam in excelso, sed volenti penetrabilem. Denn auch das ist ein Vorzug des Sextius: Er zeigt dir die Erhabenheit des glückseligen Lebens und lässt dich doch nicht beim Streben nach diesem Ziel verzweifeln: Du weißt stets, es ist hochgesteckt, aber dem festen Willen erreichbar.
Sed etiam, si omnia a veteribus inventa sunt, hoc semper novum erit: Usus et inventorum ab aliis scientia ac dispositio. Angenommen, die alten Weisheitslehrer hätten bereits alles erforscht, eins wird immer neu sein: Die Anwendung, Kenntnis und Ordnung der von anderen gefundenen Weisheitslehren.
Puta relicta nobis medicamenta, quibus sanarentur oculi: Non opus est mihi alia quaerere, sed haec tamen morbis et temporibus aptanda sunt. Denke z. B. an die uns überlieferten Arzneien für Augenkrankheiten: Gewiss brauche ich nicht nach neuen zu suchen, muss aber die alten den jeweiligen Krankheiten und Umständen anpassen.
Hoc asperitas oculorum conlevatur; hoc palpebrarum crassitudo tenuatur; hoc vis subita et umor avertitur; hoc acuetur visus: Teras ista oportet et eligas tempus, adhibeas singulis modum. Eine Medizin mildert etwa die Überanstrengung der Augen, eine andere hilft gegen geschwollene Augenlider, eine dritte beseitigt das plötzliche, übermäßige Tränen der Augen, eine vierte verbessert die Sehkraft: Alle muss man richtig verreiben, die passende Zeit abwarten und bei den einzelnen Krankheiten das rechte Maß einhalten.
Animi remedia inventa sunt ab antiquis; quomodo autem admoveantur aut quando nostri operis est quaerere. Medizin auch für seelische Krankheiten haben schon die alten Philosophen gefunden; Art und Zeit ihrer Anwendung zu erkunden ist unsere Aufgabe.
Multum egerunt, qui ante nos fuerunt, sed non peregerunt. Suspiciendi tamen sunt et ritu deorum colendi. Quidni ego magnorum virorum et imagines habeam incitamenta animi et natales celebrem? Viel haben sie geleistet, die vor uns waren, aber nicht alles. Gleichwohl müssen wir verehrend zu ihnen aufblicken, und sie verdienen göttliche Ehren. Warum sollte ich nicht die Bildnisse großer Männer als Ansporn zu geistigem Streben vor Augen haben oder ihre Geburtstage festlich begehen?
Quidni ego illos honoris causa semper appellem? Quam venerationem praeceptoribus meis debeo, eandem illis praeceptoribus generis humani, a quibus tanti boni initia fluxerunt. Warum nicht immer ihre Namen ehrfurchtsvoll nennen? Dieselbe Verehrung, die ich meinen Lehrern schulde, zolle ich auch den Lehrern des gesamten Menschengeschlechts, denn sie sind der Quell so vieler wahrer Güter.
Si consulem videro aut praetorem, omnia, quibus honor haberi honori solet, faciam: Equo desiliam, caput adaperiam, semita cedam. Erblicke ich einen Konsul oder Praetor, so werde ich ihnen alle ihrer Stellung gebührende Hochachtung erweisen: Ich springe vom Pferde, entblöße mein Haupt, trete zur Seite.
Quid ergo? Marcum Catonem utrumque et Laelium Sapientem et Socraten cum Platone et Zenonem Cleanthenque in animum meum sine dignatione summa recipiam? Was also? Und ich sollte nicht die Bilder der beiden M. Cato, des Laelius Sapiens, des Sokrates und Platon, auch des Zenon und Kleanthes mit höchster Achtung vor meinem geistigen Auge erscheinen lassen?
Ego vero illos veneror et tantis nominibus semper adsurgo. Vale. Nein, diese Männer verehre ich und erhebe mich stets vor so berühmten Namen. Lebe wohl

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