Seneca: Epistulae Morales – Epistula 7 – Übersetzung

Lateinischer Text: Deutsche Übersetzung:
Seneca grüßt seinen Lucilius (Brief 7)
Quid tibi vitandum praecipue existimes quaeris? turbam. Du fragst, was du für am meisten vermeidenswert halten sollst? Die Masse.
Nondum illi tuto committeris. Du kannst dich ihr noch nicht ohne Gefahr überlassen.
Ego certe confitebor imbecillitatem meam: numquam mores quos extuli refero: Aliquid ex eo quod composui turbatur, aliquid ex iis quae fugavi redit. Ich jedenfalls werde aufrichtig meine Schwäche bekennen: Niemals bringe ich diejenigen Sitten, die ich hinausgetragen habe, unversehrt nach Hause zurück: Irgendetwas von dem, was ich zusammengetragen habe, wird durcheinander gebracht; irgendwas von denjenigen Sitten, die ich vertrieben habe, kehrt zurück.
Quod aegris evenit quos longa imbecillitas usque eo affecit ut nusquam sine offensa proferantur, hoc accidit nobis quorum animi ex longo morbo reficiuntur. Was sich den Kranken ereignet, denen eine lange Krankheit solange zugesetzt hat, dass sie nirgendwo ohne Anfall hinausgehen, das geschieht auch uns, deren Seele sich von einer langen Krankheit erholen.
Inimica est multorum conversatio: nemo non aliquod nobis vitium aut commendat aut imprimit aut nescientibus allinit. Verderblich ist der Umgang mit vielen: Jeder drängt uns irgendeinen Fehler durch Worte auf oder vertraut ihn uns an oder hängt ihn uns an, die wir nicht Bescheid wissen.
Utique quo maior est populus cui miscemur, hoc periculi plus est. Je größer jedenfalls das Volk ist, dem wir uns beimischen, desto größer ist die Gefahr.
Nihil vero tam damnosum bonis moribus quam in aliquo spectaculo desidere; tunc enim per voluptatem facilius vitia subrepunt. Nichts aber ist so verderblich für die guten Sitten, als in irgendeinem Schauspiel müßig dazusitzen; Dadurch nämlich schleichen sich durch die Begierde ziemlich leicht Fehler ein.
Quid me existimas dicere? avarior redeo, ambitiosior, luxuriosior? immo vero crudelior et inhumanior, quia inter homines fui. Was glaubst du sage ich Dir? Ich kehre begieriger, ehrgeiziger, verschwendungssüchtiger, ja sogar grausamer und unmenschlicher zurück, weil ich unter Menschen gewesen bin.
Casu in meridianum spectaculum incidi, lusus exspectans et sales et aliquid laxamenti quo hominum oculi ab humano cruore acquiescant. Ich bin durch Zufall in die Mittagsvorstellung geraten, wo ich Späße, Witze und andere Erholungen erwartete, durch die Augen der Menschen vom menschlichen Blutvergießen zur Ruhe kommen sollen.
Contra est: quidquid ante pugnatum est misericordia fuit; nunc omissis nugis mera homicidia sunt. Das Gegenteil ist der Fall: was vorher ausgekämpft wurde, war reine Barmherzigkeit; Nachdem die Nichtigkeiten aufgegeben wurden, herrscht nun nichts als morden.
Nihil habent quo tegantur; ad ictum totis corporibus ex positi numquam frustra manum mittunt. Die Gladiatoren haben nichts, mit dem sie bedeckt sind; Weil sie einem Schlag mit dem ganzen Körper ausgesetzt sind, treffen sie niemals vergeblich.
Hoc plerique ordinariis paribus et postulaticiis praeferunt. Dieses ziehen mehrere den gewöhnlichen und vom Volk verlangten Fechtpaaren vor.
Quidni praeferant? non galea, non scuto repellitur ferrum. Warum sollten sie es nicht vorziehen? Nicht durch einen Helm, nicht durch einen Schild wird das Eisen abgehalten.
Quo munimenta? quo artes? omnia ista mortis morae sunt. Wozu Schutzmitel? Wozu Kunstgriffe? Alle diese Dinge sind bloß Veerzögerungen des Todes.
Mane leonibus et ursis homines, meridie spectatoribus suis obiciuntur. Am Morgen werden die Menschen durch Bären und Löwen getötet, am Mittag werden sie den Zuschauern vorgeworfen.
Interfectores interfecturis iubent obici et victorem in aliam detinent caedem; exitus pugnantium mors est. Sie befehlen, dass die Mörder den zukünftigen Mördern vorgeworfen werden und sparen den Sieger für ein anderes Blutbad auf; der Ausgang ist für dien Kämpfenden der Tod.
Ferro et igne res geritur. Man kämpft mit Feuer und Eisen.
Haec fiunt dum vacat harena. Dieses geschieht, solange die Arena frei ist.
‚Sed latrocinium fecit aliquis, occidit hominem.‘ „Aber irgendeiner hat einen Raub begangen, er hat einen Menschen getötet.“
Quid ergo? quia occidit, ille meruit ut hoc pateretur: tu quid meruisti miser ut hoc spectes? ‚Occide, verbera, ure! Wie also? Weil jener getötet hat, hat er es verdient, dieses zu erleiden: Was hast du Unglücklicher verdient, dieses zu betrachten? „Töte, schlage zu, brenne!
Quare tam timide incurrit in ferrum? quare parum audacter occidit? Quare parum libenter moritur? Plagis agatur in vulnera, mutuos ictus nudis et obviis pectoribus excipiant.‘ Wodurch rennt er so furchtsam ins Schwert? Wodurch tötet er so wenig kühn? Wodurch stirbt er so wenig gern? Durch Schläge soll er seinen Wunden entgegen getrieben werden, sie sollen die wechselseitigen Schlägen mit nacktem und sich willig darbietendem Körper empfangen.“
Intermissum est spectaculum: ‚interim iugulentur homines, ne nihil agatur‘. Das Schauspiel wird unterbrochen: „Inzwischen sollen den Menschen die Kehlen durchgeschnitten werden, damit nichts passiert.“
Age, ne hoc quidem intellegitis, mala exempla in eos redundare qui faciunt? Nun gut, bemerkt ihr nicht einmal, dass die schlechten Beispiele auf diejenigen zurückfallen, die sie tun?
Agite dis immortalibus gratias quod eum docetis esse crudelem qui non potest discere. Dankt den unsterblichen Göttern, dass ihr dem lehrt, grausam zu sein, der es nicht lernen kann.
Subducendus populo est tener animus et parum tenax recti: facile transitur ad plures. Man muss einen zarten und zu wenig befestigten Geist dem Volk entziehen: Leicht schließt man sich der Mehrheit an.
Socrati et Catoni et Laelio excutere morem suum dissimilis multitudo potuisset: adeo nemo nostrum, qui cum maxime concinnamus ingenium, ferre impetum vitiorum tam magno comitatu venientium potest. Sogar einen Sokrates, einen Cato und Laelius hätte eine ihnen wenn auch noch so unähnliche Menge in ihrem sittlichen Standpunkt irremachen können: Geschweige denn, dass einer von uns, die wir gerade jetzt an unserer Geistesbildung arbeiten, dem Angriff von Lastern gewachsen sein würde, die mit so großem Gefolge gegen uns anstürmen.
Unum exemplum luxuriae aut avaritiae multum mali facit: convictor delicatus paulatim enervat et mollit, vicinus dives cupiditatem irritat, malignus comes quamvis candido et simplici rubiginem suam affricuit: Quid tu accidere his moribus credis in quos publice factus est impetus? Necesse est aut imiteris aut oderis. Ein einziges Beispiel von Schlemmerei oder Habsucht richtet viel Unheil an: Ein verwöhnter Hausfreund überträgt seine Schlaffheit und Weichlichkeit allmählich auch auf uns; ein reicher Nachbar regt unsere Begehrlichkeit auf, ein bösartiger Genosse lässt auch die lautersten und ehrlichsten Gefährten nicht ohne Spuren seines verunreinigenden Einflusses davonkommen: Worauf muss man sich also gefasst machen, wenn das ganze Volk gegen die Sittlich anstürmt? Hier hat man nur die Wahl zwischen Nachahmen und oder Hassen.
Utrumque autem devitandum est: neve similis malis fias, quia multi sunt, neve inimicus multis, quia dissimiles sunt. Beides aber ist zu meiden. Man soll sich weder den Bösen gleich machen aus keinem anderen Grunde, als weil sie in der Überzahl sind, noch soll man zum Feinde der Menge werden, weil sie nicht gleich mit uns ist.
Recede in te ipse quantum potes; Cum his versare qui te meliorem facturi sunt, illos admitte quos tu potes facere meliores. Ziehe dich also in dich selbst zurück soweit wie möglich; Verkehre nur mit Leuten, die dich besser machen können, und lass solche sich an dich anschließen, die du besser machen kannst.
Mutuo ista fiunt, et homines dum docent discunt. So kommt es zu einer Wechselwirkung, während man lernt, indem man lehrt.
Non est quod te gloria publicandi ingenii producat in medium, ut recitare istis velis aut disputare; quod facere te vellem, si haberes isti populo idoneam mercem: nemo est qui intellegere te possit. Es gibt kein Grund dafür, dass die Ruhmsucht der bekannt zu machenden Anlage dich in die Öffentlichkeit führt, dass du vorlesen oder diskutieren willst; was ich wollte, dass du es machst, wenn du eine geeignete Ware für das Volk besäßest: Es gibt niemand, der dich erkennen könnte.
Aliquis fortasse, unus aut alter incidet, et hic ipse formandus tibi erit instituendusque ad intellectum tui. Vielleicht wird irgendjemand, einer oder ein anderer daherkommen, und dieser selbst wird dir zu formen und einzurichten sein, damit er dich erkennt (wörtl.: … wird dir zum Erkennen deiner zu formen und einzurichten sein.).
‚Cui ergo ista didici?‘ Non est quod timeas ne operam perdideris, si tibi didicisti. „Für wen habe ich folglich diese Dinge gelernt?“ Es gibt kein Grund, dass du fürchtest, dass du die Arbeit verloren hast, wenn du es für dich gelernt hast.
Sed ne soli mihi hodie didicerim, communicabo tecum quae occurrunt mihi egregie dicta circa eundem fere sensum tria, ex quibus unum haec epistula in debitum solvet, duo in antecessum accipe. Aber ich habe heute nicht für mich allein gelernt, ich werde dir mitteilen, welche vorzüglich um den ungefähr selben Sinn drei gesagten Dinge mir entgegengetreten sind; aus diesen wird dieser Brief einen seine Schuld bezahlen, zwei empfange als Vorschuss.
Democritus ait, ‚unus mihi pro populo est, et populus pro uno‘. Demokrit sagte: „Einer ist mir für das Volk, und das Volk ist für den einen.“
Bene et ille, quisquis fuit, ambigitur enim de auctore, cum quaereretur ab illo quo tanta diligentia artis spectaret ad paucissimos perventurae: ‚Satis sunt‘ inquit ‚mihi pauci, satis est unus, satis est nullus‘. Gut sagte auch jener, wer auch immer es gewesen ist (denn über den Urheber wird gestritten), da er von jenem klagte, wodurch er auf die so große Sorgfalt der Kunst, die im Begriff ist, zu den wenigsten zu kommen, zielte: „Wenige sind mir genug, einer ist genug, keiner ist genug.“
Egregie hoc tertium Epicurus, cum uni ex consortibus studiorum suorum scriberet: ‚haec‘ inquit ‚ego non multis, sed tibi; satis enim magnum alter alteri theatrum sumus‘. Vorzüglich sagte Epikur dies als drittes, als er einem von den Gefährten seiner Studien schrieb: „Ich (schreibe) diese Dinge nicht vielen, sondern dir; denn wir sind einer dem anderen ein großes genügendes Publikum.“
Ista, mi Lucili, condenda in animum sunt, ut contemnas voluptatem ex plurium assensione venientem. Diese Dinge, mein Lucilius, müssen in den Geist hinein aufbewahrt werden, damit du das Vergnügen, von der Zustimmung mehrerer kommend, verachtest.
Multi te laudant: ecquid habes cur placeas tibi, si is es quem intellegant multi? Viele loben dich: Hast du denn etwa Grund dazu, dass du dir gefällst, wenn du dieser bist, den viele erkennen?
Introrsus bona tua spectent. Vale. Nach innen mögen deine guten Dinge schauen. Leb wohl.

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