Seneca: Epistulae Morales – Epistula 4 – Übersetzung

Lateinischer Text: Deutsche Übersetzung:
Die Suche nach der Wahrheit befreit von der Furcht des Todes – Seneca grüßt seinen Lucilius (Brief 4)
Persevera ut coepisti et quantum potes propera, quo diutius frui emendato animo et composito possis. Mach weiter, wie du angefangen hast, und eile, wie weit du kannst, damit du umso länger eine fehlerfreie und wohlgeordnete Seele genießen kannst.
Frueris quidem etiam dum emendas, etiam dum componis: alia tamen illa voluptas est quae percipitur ex contemplatione mentis ab omni labe purae et splendidae. Freilich genießt du auch, während du dich von Fehlern befreist, auch, während, du deine Seele ordnest: Dennoch ist jene Lust eine andere, den man aus der Betrachtung der Seele erkennt, die von jedem Fehler rein und weiß ist.
Tenes utique memoria quantum senseris gaudium cum praetexta posita sumpsisti virilem togam et in forum deductus es: maius expecta cum puerilem animum deposueris et te in viros philosophia transscripserit. Jedenfalls hälst du in Erinnerung, welch große Freunde du gespürt hast, als du die Toga des Jungen durch die des Mannes ersetzt hast und auf das Forum geführt wurdest: erwarte Größeres, wenn du das Herz eines Jungen abgelegt hast und die Philosophie dich unter Männer hinüber versetzt.
Adhuc enim non pueritia sed, quod est gravius, puerilitas remanet; et hoc quidem peior est, quod auctoritatem habemus senum, vitia puerorum, nec puerorum tantum sed infantum: illi levia, hi falsa formidant, nos utraque. Denn bis jetzt verbleibt nicht das Kindalter, sondern, was doch schwerer ist, das kindische Wesen; Und das ist freilich schlimmer, weil wir das Ansehen der Greise haben, und Fehler von Jungen, und nicht nur die von Jungen, sondern von Kleinkindern: jene haben Angst vor Bagatellen, diese vor Verfälschtem, wir haben Angst vor beidem.
Profice modo: intelleges quaedam ideo minus timenda quia multum metus afferunt. Geh nur weiter: du wirst einige Dinge einsehen, die deswegen weniger gefürchtet werden müssen, weil sie viel Furcht bringen.
Nullum malum magnum quod extremum est. Kein Übel ist groß, dass das äußerste ist.
Mors ad te venit: timenda erat si tecum esse posset: necesse est aut non perveniat aut transeat. Der Tod kommt zu dir: du musstest ihn fürchten, wenn er bei dir bleiben könnte; notwendigerweise kommt er zu dir oder er geht vorüber.
‚Difficile est‘ inquis ‚animum perducere ad contemptionem animae. „Schwierig ist es“, sagst du, „den Geist zur Verachtung des Lebens zu führen.“
‚Non vides quam ex frivolis causis contemnatur? Du siehst nicht, wie aus Nichtigkeiten verachtet wird?
Alius ante amicae fores laqueo pependit, alius se praecipitavit e tecto ne dominum stomachantem diutius audiret, alius ne reduceretur e fuga ferrum adegit in viscera: non putas virtutem hoc effecturam quod efficit nimia formido? Der eine hat sich vor der Tür der Freundin mit einem Strick erhängt, der andere sich vom Dach gestürtzt, um den grollenden Herren nicht länger zu hören, ein anderer hat das Schwert in den Leib gestürzt, um nicht von der Flucht zurückgeholt zu werden: Glaubst du nicht, dass dass die Tugend das, was allzu große Angst bewirkt, bewirken wird?
Nulli potest secura vita contingere qui de producenda nimis cogitat, qui inter magna bona multos consules numerat. Ein sorgenfreies Leben kann keinem zu Teil werden, der allzusehr über dessen Verlängerung nachdenkt, der viele Konsuln unter die großen Güter zählt.
Hoc cotidie meditare, ut possis aequo animo vitam relinquere, quam multi sic complectuntur et tenent quomodo qui aqua torrente rapiuntur spinas et aspera. Das bedenke täglich, dass du das Leben mit Gelassenheit zurücklassen kannst, das viele so umklammern und halten, wie Leute, die von reißendem Wasser weggetrieben werden, an Dornen und Gestrüpp.
Plerique inter mortis metum et vitae tormenta miseri fluctuantur et vivere nolunt, mori nesciunt. Die meisten wogen zwischen Todesfurcht und Lebensqualen armselig hin und her und wollen nicht leben, können aber auch nicht sterben.
Fac itaque tibi iucundam vitam omnem pro illa sollicitudinem deponendo. Mach dir deshalb ein angenehmes Leben indem du jene Beunruhigung ablegst.
Nullum bonum adiuvat habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est animus; nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest. Kein Gut hilft dem Habenden, wenn der Geist nicht auf dessen Verlust vorbereitet ist; kein Verlust einer Sache ist leichter als die Dinge, die nicht nicht ersehnt werden, wenn sie verloren sind.
Ergo adversus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura. Also feure dich gegen das, was auch den Mächtigsten zustoßen kann, an und härte dich ab.
De Pompei capite pupillus et spado tulere sententiam, de Crasso crudelis et insolens Parthus; Gaius Caesar iussit Lepidum Dextro tribuno praebere cervicem, ipse Chaereae praestitit; neminem eo fortuna provexit ut non tantum illi minaretur quantum permiserat. Über den Kopf des Pompeius haben ein Unmündiger und ein Eunuch abgestimmt, über Crassus ein grausamer und unmäßiger Parther: Gaius Caesar befahl, dass Lepidus dem Obersten Tribun den Nacken darbot, er selbst bot ihn dem Charea; Das Schicksal hat niemanden dorthin weitergebracht, dass es jenem nicht so viel androhte, wie es versprochen hatte.
Noli huic tranquillitati confidere: momento mare evertitur; eodem die ubi luserunt navigia sorbentur. Vertraue nicht auf diese Ruhe: in nur kurzem Moment wird das Meer aufgewühlt; am selben Tag, wo noch die Schiffe ruhig schaukelten, werden sie von den Wellen verschlungen.
Cogita posse et latronem et hostem admovere iugulo tuo gladium; ut potestas maior absit, nemo non servus habet in te vitae necisque arbitrium. Bedenke, der Räuber und der Feind könnten dir das Messer an die Kehle setzen: mag eine höhere Macht fehlen, hat jeder Sklave dir gegenüber die Entscheidung über Leben und Tod.
Ita dico: quisquis vitam suam contempsit tuae dominus est. So sage ich dir: wer auch immer sein Leben verachtet hat, ist Herr über das deinige.
Recognosce exempla eorum qui domesticis insidiis perierunt, aut aperta vi aut dolo: intelleges non pauciores servorum ira cecidisse quam regum. Prüfe die Beispiele derer, die durch Hinterhalt im eigenen Haus zu Tode kamen oder durch offene Gewalt oder durch List: Du wirst einsehen, dass nicht weniger durch den Zorn von Sklaven als durch den von Königen gestorben sind.
Quid ad te itaque quam potens sit quem times, cum id propter quod times nemo non possit? Was bedeutet es dir deshalb, wie mächtig der ist, den du fürchtest, wenn das, wegen dessen du ihn fürchtest, jeder andere auch vermag?
At si forte in manus hostium incideris, victor te duci iubebit, eo nempe quo duceris. Doch wenn du zufällig in feindliche Hände fällst, wird dich der Sieger zum Tode führen lassen, dorthin natürlich, wohin du sowieso geführt wirst.
Quid te ipse decipis et hoc nunc primum quod olim patiebaris intellegis? Wozu täuscht du dich selbst und siehst jetzt das zum ersten Mal ein, was du schon immer erlitten hast?
Ita dico: ex quo natus es, duceris. Ich sag´s so: seit deiner Geburt wirst du zum Tode geführt.
Haec et eiusmodi versanda in animo sunt si volumus ultimam illam horam placidi exspectare cuius metus omnes alias inquietas facit. Das und derartiges muss man sich durch den Kopf gehen lassen, wenn wir jene letzte Stunde friedlich erwarten wollen, dessen Furcht alle anderen davor ruhelos macht.
Sed ut finem epistulae imponam, accipe quod mihi hodierno die placuit – et hoc quoque ex alienis hortulis sumptum est: ‘magnae divitiae sunt lege naturae composita paupertas’. Aber, um meinen Brief zu beenden, empfange das, was mir am heutigen Tag gefallen hat; und auch das ist aus fremden Gärten genommen worden. “Großer Reichtum ist nach dem Naturgesetz geordnete Armut.”
Lex autem illa naturae scis quos nobis terminos statuat? Weißt du aber, welche Grenzen uns jenes Naturgesetz setzt?
Non esurire, non sitire, non algere. Nicht zu hungern, nicht zu dürsten, nicht zu frieren.
Ut famem sitimque depellas non est necesse superbis assidere liminibus nec supercilium grave et contumeliosam etiam humanitatem pati, non est necesse maria temptare nec sequi castra: parabile est quod natura desiderat et appositum: Ad supervacua sudatur; Um den Hunger und den Durst zu vertreiben, ist es nicht notwendig, an erhabenen Schwellen zu sitzen noch ist es notwendig, schweren Hochmut zu ertragen und demütigende Menschlichkeit, noch ist es notwendig, die Meere zu erobern suchen nocht Lagern zu folgen: Einfach ist das, was die Natur verlangt, und auch verfügbar: Bei Unnützem schwitzt man.
Illa sunt quae togam conterunt, quae nos senescere sub tentorio cogunt, quae in aliena litora impingunt: ad manum est quod sat est. Das ist es, was die Toga aufbraucht, was uns zwingt unter dem Zelt älter zu werden, was uns an fremde Küsten treibt: zur Hand ist das, was genug ist.
Cui cum paupertate bene convenit dives est. Vale. Wem es mit Armut gut geht, ist reich. Leb wohl.

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.