Seneca: Epistulae Morales – Epistula 12 – Übersetzung

Lateinischer Text: Deutsche Übersetzung:
Seneca Lucilio Suo Salutem Seneca grüßt seinen Lucilius (Brief 12)
Quocumque me verti, argumenta senectutis meae video. Wohin ich mich auch wende, überall sehe ich Beweise meines hohen Alters.
Veneram in suburbanum meum et querebar de impensis aedificii dilabentis. Bei einem Besuche meines Landgutes in der Nähe der Stadt beklagte ich mich über die Kosten des baufälligen Gutshauses.
Ait vilicus mihi non esse neglegentiae suae vitium, omnia se facere, sed villam veterem esse. Der Verwalter erklärte mir, daran sei nicht etwa seine Nachlässigkeit schuld, er lasse es an nichts fehlen, aber das Landhaus sei alt.
Haec villa inter manus meas crevit: Quid mihi futurum est, si tam putria sunt aetatis meae saxa? Dies Landhaus ist unter meinen Händen ausgebaut worden! Worauf muß ich mich gefaßt machen, wenn Steine, die nicht älter sind als ich, schon mürbe werden?
Iratus illi proximam occasionem stomachandi arripio. In gereizter Stimmung ergreife ich den nächsten Anlass, meinen Ärger kundzugeben.
„Apparet“, inquam, „has platanos neglegi: Nullas habent frondes. „Es liegt am Tage“, sage ich, „diese Platanen ermangeln der sorglichen Pflege: sie haben kein Laub.
Quam nodosi sunt et retorridi rami, quam tristes et squalidi trunci! Wie knotig und dürr sind die Äste, wie verkümmert und ungepflegt die Stämme!
Hoc non accideret, si quis has circumfoderet, si irrigaret. Dem wäre nicht so, wenn der Boden ringsum gehörig gelockert und wenn bewässert würde“.
„Iurat per genium meum se omnia facere, in nulla re cessare curam suam, sed illas vetulas esse. Er schwört bei meinem Schutzgeist, er tue alles, lasse es in keinem Stücke an der nötigen Sorgfalt fehlen, aber die Platanen seien alt.
Quod intra nos sit, ego illas posueram, ego illarum primum videram folium. Unter uns gesagt, ich selbst hatte sie gepflanzt, hatte ihr erstes Laub gesehen.
Conversus ad ianuam „quis est iste?“, inquam, „iste decrepitus et merito ad ostium admotus? Foras enim spectat. Ich wende mich nun der Tür zu und frage: „Wer ist dieser stumpfe Gesell, der mit Recht seinen Platz am Eingang erhalten hat? Er blickt schon hinaus (nach dem Grabe).
Unde istunc nanctus es? Quid te delectavit alienum mortuum tollere?“ At ille „Non cognoscis me?“, inquit: „Ego sum Felicio, cui solebas sigillaria afferre; ego sum Philositi vilici filius, deliciolum tuum“. Wo hast du ihn denn aufgelesen? Was fandest du für ein Vergnügen daran, eine fremde Leiche aufzunehmen?“ Da rief jener: „Kennst du mich nicht? Ich bin Felicio, den du mit den Bilderchen zu beglücken pflegtest. Ich bin der Sohn deines Verwalters Philositus, dein Liebling“.
„Perfecte“, inquam, „iste delirat: Pupulus, etiam delicium meum factus est? Prorsus potest fieri: Dentes illi cum maxime cadunt.“ „Er ist rein verrückt“, sage ich: „Ist er schon als Bübchen mein Liebling geworden? Wohl möglich: die Zähne fallen ihm eben jetzt aus.“
Debeo hoc suburbano meo, quod mihi senectus mea, quocumque adverteram, apparuit. Ich muss meinem Landgut dankbar sein, es hat mir, wohin ich auch die Blicke richtete, mein hohes Alter zum Bewusstsein gebracht.
Complectamur illam et amemus; plena est voluptatis, si illa scias uti. Nehmen wir es also freudig hin und schenken ihm unsere Liebe; Es bietet eine Fülle von Genuss, wenn man es nur von jener (Seite) gebracht.
Gratissima sunt poma, cum fugiunt; Pueritiae maximus in exitu decor est; Deditos vino potio extrema delectat, illa, quae mergit, quae ebrietati summam manum imponit; Quod in se iucundissimum omnis voluptas habet, in finem sui differt. Das Obst schmeckt am besten, wenn seine Zeit zu Ende geht; Das Knabenalter zeigt seinen größten Reiz im letzten Abschnitt; Dem Zecher schmeckt der lelzle Zug am besten, der zum Untertauchen führt und der Trunkenheit die Krone aufsetzt; Den größten Reiz, den jede Art von Lust in sich schließt, verspart sie auf das Ende.
Iucundissima est aetas devexa iam, non tamen praeceps, et illam quoque in extrema tegula stantem iudico habere suas voluptates; aut hoc ipsum succedit in locum voluptatium, nullis egere. Am reizvollsten ist das Alter, das sich bereits abwärts kehrt, aber noch nicht zu jähem Sturz, aber auch das am äußersten Rande stehende Alter hat meines Erachtens noch seine Reize; Oder es tritt an die Stelle des Reizvollen eben das Glück, nichts zu bedürfen.
Quam dulce est cupiditates fatigasse ac reliquisse! Welche Wonne, seiner Begierden Herr geworden zu sein und ihnen den Laufpass gegeben zu haben!
„Molestum est“, inquis, „mortem ante oculos habere.“ Primum ista tam seni ante oculos debet esse quam iuveni non enim citamur ex censu; deinde nemo tam sene est, ut improbe unum diem speret. Unus autem dies gradus vitae est. „Aber es hat doch sein Mißliches, den Tod vor Augen zu haben“, erwiderst du. Erstens muß er dem Jüngling nicht weniger vor Augen Slehen als dem Greis. Denn wir werden nicht nach Alterslisten abgerufen. Sodann ist doch niemand so alt, dass man ihm einen Vorwurf machen könnte, wenn er noch einen weiteren Tag erhofft. Ein Tag aber ist eine Stufe des Lebens.
Tota aetas partibus constat et orbes habet circumductos maiores minoribus: Est aliquis, qui omnis complectatur et cingat hic pertinet a natali ad diem extremum; est alter, qui annos adulescentiae excludit; est, qui totam pueritiam ambitu suo adstringit; est deinde per se annus in se omnia continens tempora, quorum multiplicatione vita componitur; mensis artiore praecingitur circulo; angustissimum habet dies gyrum, sed et hic ab initio ad exitum venit, ab ortu ad occasum. Das ganze Leben besteht aus Teilen und setzt sich aus Kreisen zusammen, von denen immer ein größerer die kleineren umschließt: Einer von ihnen umfaßt und begrenzt alle; er reicht vom Tag der Geburt bis zu dem des Todes; ein zweiter umschließt die Jahre der Jünglingszeit; ein dritter umspannt die ganze Kindheit; Es gibt ferner einen selbständigen Jahreskreis, der alle Zeiten umfaßt, aus deren Vervielfältigung sich das Leben zusammensetzt; Den Monat umspannt ein engerer Kreis; Der engste Kreis gehört dem Tag, doch auch dieser erstreckt sich vom Anfang bis zum Ende, vom Aufgang bis zum Untergang.
Ideo Heraclitus, cui cognomen fecit orationis obscuritas, „unus“, inquit, „dies par omni est“. Hoc alius aliter excepit. Daher sagt Heraklit, der Dunkle, wie er wegen der Dunkelheit seiner Sprache hieß, „Ein Tag gleicht allen“. Das hat der eine so, der andere anders aufgefaßt.
Dixit enim parem esse horis, nec mentitur; nam si dies est tempus viginti et quattuor horarum, necesse est omnes inter se dies pares esse, quia nox habet, quod dies perdidit. Der eine deutete es auf die gleiche Stundenzahl, und das ist nicht unrichtig, denn wenn der Tag ein Zeitraum von vierundzwanzig Stunden ist, dann müssen alle Tage einander gleich sein, weil, was der Tag verloren hat, durch die Nacht ersetzt wird.
Alius ait parem esse unum diem omnibus similitudine; nihil enim habet longissimi temporis spatium, quod non in uno die invenias, lucem et noctem, et in alternas mundi vices plura facit ista, non alia: alias contractior, alias productior. Ein anderer sagt ein Tag gleicht allen Tagen in Hinsicht auf seine Beschaffenheit; Denn auch die längste Zeitspanne hat nichts an sich, was sich nicht auch an jedem einzelnen Tage fände, Licht und Dunkelheit, und auch die wechselnden Weltperioden zeigen in dieser Beziehung keinen Unterschied (vom Einzeltag), nur die Länge (bei vermehrter Zahl der Einzeltage) und Kürze (des Einzehages) macht den Unterschied.
Itaque sic ordinandus est dies omnis tamquam cogat agmen et consummet atque expleat vitam. Daher muß man mit jedem Tage auf das gewissenhafteste verfahren, als wäre er der letzte der Reihe und bringe die Summe der Lebenstage zum Abschluss.
Pacuvius, qui Syriam usu suam fecit, cum vino et illis funebribus epulis sibi parentaverat, sic in cubiculum ferebatur a cena, ut inter plausus exoletorum hoc ad symphoniam caneretur: „…“. Pacuvius, der Syrien vollständig für sich ausbeutete, ließ sich, wenn er durch wüstes Zechen und Schmausen sich gleichsam selbst das Totenopfer gebracht hatte, in der Weise in sein Schlafgemach tragen, dass bei Musikbegleitung unter dem Jubel der Buhlknaben gesungen ward: „…“ (Ich habe gelebt, ich habe gelebt)!
Nullo non se die extulit. Hoc, quod ille ex mala conscientia faciebat, nos ex bona faciamus, et in sonum ituri laeti hilaresque dicamus, vixi et quem dederat cursum fortuna peregi. Und kein Tag verging, wo er nicht so sein Leichenbegängnis hielt. Was er im Bewußtsein seiner Schlechtigkeit tat, das wollen wir bei gutem Gewissen tun, und jedesmal, wenn wir uns zur Ruhe legen, froh und heiter zu uns sagen, Ja, ich habe gelebt und den Lauf des Schicksals vollendet!
Crastinum, si adiecerit deus, laeti recipiamus. Ille beatissimus est et securus sui possessor, qui crastinum sine sollicitudine exspectat; quisquis dixit „vixi“ ,cotidie ad lucrum surgit. Fügt die Gottheit noch den morgenden Tag hinzu, so sei er mit Freude in Empfang genommen. Der ist der Glücklichste und der unbedingt sichere Herr seiner selbst, der dem morgenden Tag ohne Bangen entgegensieht; Wer sagen kann: „ich habe gelebt“, der erhebt sich täglich zu neuem Gewinn.
Sed iam debeo epistulam includere. „Sic“, inquis, „sine ullo ad me peculio veniet?“ Doch es ist Zeit, meinen Brief zu beschließen. „So soll er also“, sagst du, „ohne irgendwelche Spende an mich gelangen?“
Noli timere: Aliquid secum fert. Quare aliquid dixi? multum. Quid enim hac voce praeclarius quam illi trado ad te perferendam? Erspare dir die Furcht: Er bringt etwas mit. Etwas? Nein, ich müßte sagen: viel. Denn gibt es einen trefflicheren, herrlicheren Spruch als den, den ich diesem Briefe für dich mitgebe?
„Malum est in necessitate vivere, sed in necessitate vivere necessitas nulla est.“ Quidni nulla sit? „Schlimm ist es, in Not zu leben, aber in Not zu leben nötigt nichts“. Und so ist’s in der Tat.
Patent undique ad libertatem viae multae, breves faciles. Viele Wege zur Freiheit, kurz und gangbar, eröffnen sich allerseits.
Agamus deo gratias, quod nemo in vita teneri potest: Calcare ipsas necessitates licet. Danken wir Gott, dass niemand unbedingt an das Leben gefesselt ist: Es liegt in unserer Macht, die Not selbst zu Boden zu treten.
„Epicurus“, inquis, „dixit“: „Quid tibi cum alieno?“ „Epikur sagte das“, erwiderst du; „was befaßt du dich mit fremdem Gut?“
Quod verum est, meum est; perseverabo Epicurum tibi ingerere, ut isti qui in verba iurant nec quid dicatur aestimant, sed a quo, sciant, quae optima sunt esse communia. Vale. Was wahr ist, gehört mir; Nichts soll mich abhalten, dir auch weiterhin mit dem Epikur aufzuwarten, auf daß die, die auf des Meisters Worte schwören und nichts darauf geben, was gesagt wird, sondern von wem es gesagt wird, zu der Einsicht kommen, dass das Beste Gemeingut ist. Lebe wohl.


[stextbox id="info"]Dieser Text ist leider noch nicht optimal. Wenn Sie eine bessere Übersetzung besitzen, würden wir uns sehr freuen, wenn Sie uns ein Foto oder den Text zukommen lassen würden. Vielen Dank. [/stextbox]

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